Ein Praktikum als Maßschneiderin in Sevilla
Im Spätherbst 2021 bekam ich die Möglichkeit, aus meinem Azubi-Alltag als Maßschneiderin am Staatstheater Karlsruhe heraus- und in eine andere Welt einzutreten. Ich nahm teil an dem Auslandspraktikum „Go.for.europe“, und verbrachte einen ganzen Monat im südlichsten Zipfel Spaniens, in Sevilla.
So fand ich mich dann wieder an einer Nähmaschine in der hintersten Ecke des klitzekleinen Verkaufsraumes des Flamencokleider-Ladens „Flamenco Pasión“, mitten im Geschehen. Regelmäßig schaute die Verwandtschaft vorbei. Oma half bei kleinen Handarbeiten, dabei die Enkelin auf dem Schoß. Freundinnen inklusive Hunden kamen beim Gassi-Gehen durch und Flamencotänzerinnen probierten die Kleider an. Die Luft war erfüllt von schnellem, lautem Sevillanisch.
Zugeschnitten wurde in einer kleinen Kammer hinter dem Hauptraum mit einem Gerät, das sich am besten als „elektrischer Pizzaschneider“ bezeichnen lässt. Damit konnten problemlos ein dutzend Stofflagen gleichzeitig geschnitten werden. Gearbeitet wurde mehr nach Gefühl und Augenmaß als nach exakten Maßangaben. Beheimatet in der deutschen Maßschneiderei und ihrer ständigen Millimeterarbeit, brauchte ich erstmal ein paar Tage, um mich daran zu gewöhnen. Was ich dabei lernte, war, dass es beim Nähen immer auf das Endergebnis und die Anforderungen an das fertige Kleidungsstück ankommt. Beim Flamenco kommt es ja nicht auf die perfekte Verarbeitung an, sondern viel mehr auf die wunderbaren Stoffe, die Massen an Volants und vor allem die Ausdrucksstärke der Tänzer und Tänzerinnen!
Für mich waren diese vier Wochen in Sevilla wirklich in vielfacher Hinsicht bereichernd. Zunächst einmal habe ich gesehen, was für unterschiedliche Seiten mein Handwerk haben kann. Außerdem hat mich die Erfahrung, sich in einer fremden Kultur zurechtzufinden, enorm gestärkt und mir Gelassenheit und Vorfreude vermittelt im Hinblick auf weitere Reisen, Auslandsaufenthalte und Arbeitsumfelder. So kam ich zurück nach Deutschland, im Gepäck ein bisschen mehr Selbstvertrauen, zahlreiche schöne Erfahrungen und, vor allem, ein paar wunderbare Bekanntschaften. Noch eines: Zum Abschied bestand unsere tolle spanische Gastmutter auf ein „Hasta luego“, (auf Wiedersehen) mit den Worten: Wer einmal in Sevilla war, der kommt ja doch immer wieder zurück.
Marlene Rössle