Trinationaler Austausch mit Gobelins, Paris,
und der Rerich-Kunstfachschule, St. Petersburg
St. Petersburg 2010
Faul und träge liegt er am Ufer. Er hat sich breit gemacht und alle Viere von sich gestreckt. In seinen Därmen gärt es. Er hat zuviel gefressen in den letzten Jahren und scheint satt zu sein. Übersatt. In seinem Fell sind noch die nassen Flecken des Winters, der sich erst vor ein paar Tagen weiter nach Norden verzog und den letzten Schnee mitnahm, von dem es in diesem Jahr mehr als genug gab.
Unser Flugzeug fliegt eine große Schleife. Nachdem es die Wolkendecke durchbrochen hat, sieht man deutlich die Dimensionen des Meerbusens. Drüben im grauen Dunst glaubt man die Küste Finnlands.
Er liegt direkt unter uns, der schwarze Hund.
Jurij Schewtschuk, der Schrecken des KGB, Sänger und Gitarrist der systemkritischen russischen Rockband mit dem supergiftigen Namen DDT hat ihn besungen, den Tschorny Pjos, den schwarzen Hund. Und jeder seiner Fans wusste genau, dass er eigentlich Petersburg damit meint.
Sankt Petersburg, alias Petrograd, alias Leningrad.
Von Peter dem Großen 1703 in mückenverseuchten Sümpfen als Zugang Russlands zur Ostsee und als Bollwerk gegen die verhassten Schweden unter dem Namen Sankt-Pieterburch auf menschlichen Knochen erbaut. Heute über 4 Millionen Einwohner, nördlichste Millionenstadt der Welt, prunkvolles Weltkulturerbe der UNESCO.
Wir landen am 7. Mai 2010, 17.35 Uhr Ortszeit in der Russischen Förderation. Fremdes Land, fremde Menschen, fremde Sitten und Gebräuche, fremde Sprache, fremdes Essen, fremde Währung, fremde Schrift.
Und dabei wissen wir jetzt noch nicht einmal, dass es heute Nacht nur noch für vier Stunden so richtig dunkel wird, wir in den nächsten Tagen den heißesten Mai seit Beginn der Wetteraufzeichnungen erleben und endlich verstehen werden, warum die weiblichen Gazellen auf dem Nevskij-Prospekt bei nahezu 30 Grad nur spärlich bekleidet daher stöckeln.
Die Fahrt mit dem Bus zum Oktoberhotel im Zentrum dauert. Vorbei an der Gedenkstätte zur Erinnerung an die deutsche Blockade von 1941–44. 900 Tage Hunger, 100.000 Fliegerbomben, 150.000 Artilleriegeschosse. Deutlich über 1.000.000 Zivilisten verhungert, an Krankheiten gestorben, mit deutscher Präzision in die Luft gesprengt. 500.000 Rotarmisten sind bei Befreiungsversuchen gefallen. Die Befreiung wird gefeiert. Am 9. Mai 2010 zum 65. Mal! In der Stadt sind fröhlich winkende Rotarmisten allgegenwärtig. Schwarz-weiße Fotos von ihnen, auf Plakaten und Transparenten. Direkt neben denen von McDonald, Pepsi und Samsung. Die Veteranen und Enkel in der heutigen Russischen Förderation marschieren Mann an Mann und Frau an Frau zum Gedenken. Rote Fahnen und Fähnchen überall. Pobeda! Sieg! Frau Merkel und Herr Sarkosy sind als Gäste auf der Ehrentribüne dabei. Nicht wirklich in St. Petersburg, aber in Moskau. Wir können sie nur auf Großleinwänden überall auf den Plätzen der Stadt bewundern.
Der Empfang bei unseren russischen Freunden ist mehr als herzlich. Ganz, ganz große Gastfreundschaft, wie die nächsten Tage noch zeigen werden!
Deutsche, Franzosen und Russen. Auf dem Motorboot geht es durch die Kanäle hinaus auf die Neva. Zwischen die Speisen vom russischen Buffet reihen sich die, zum 300. Geburtstag im Jahre 2003 restaurierten, prunkvollen Fassaden historischer Paläste wie Perlen in einer Kette. Kulturhauptstadt, Weltkulturerbe. Sankt Petersburg, die Schöne aus den Sümpfen!
Auf den Brücken drängeln sich winkend Touristen aus aller Welt. Reflexionen tanzen unbeschwert auf Mauern, Brücken und Fassaden. Friedlich, ja unbeschwert sonnt sich die Stadt.
Die Zeit des Tschorny Pjos ist lange schon vorbei!
Am gegenüberliegenden Ufer erhebt sich die ehemalige KGB-Zentrale. Sieben Stockwerke über, sieben unter dem Wasser: Ein Angler fängt dort die meisten Fische, sagt Luidmila am Buffet zu Douglas und mir. Aber wir drei sind Kinder des Kalten Krieges.
Unsere Schüler rekeln sich inzwischen trinational auf dem Sonnendeck, haben Spaß und genießen den Nachmittag. Die Sonne scheint, das Essen war super, in den Därmen der Stadt pulsiert das Leben. Deshalb sind wir hier! Was wollen wir mehr? Vor dem Neubau der Baltica-Brauerei mit der nagelneuen gigantischen Leuchtwerbung auf dem Dach liegt in hoffentlich letzter musealer Ruhe der Panzerkreuzer Aurora.
Russisch-japanischer Krieg, Oktoberrevolution, Erster und Zweiter Weltkrieg!
Unsere Schüler füttern ihre Speicherkarten, die Gehirne des digitalen Zeitalters, mit der martialischen Kulisse. In kaum einer anderen Stadt haben so viele Tragödien ihre Narben hinterlassen. Sankt Petersburg lebt von mannigfaltigen Gegensätzen.
Es wird Zeit die Aufgaben an unsere Grafikdesign-Schüler zu verteilen:
Zeigt Sankt Petersburg, wie ihr es seht!
Die folgenden Tage sind als Fortsetzung der Arbeiten des trinationalen Arbeitsaufenthaltes in Berlin 2009 zu verstehen. Keiner der teilnehmenden Schüler aus Deutschland und Frankreich war in Berlin dabei. Dort dabei waren auf russischer Seite nur eine Handvoll Teilnehmer, die sich erfahren einbrachten und schon wussten, wie es laufen könnte. Diese Handvoll begleitete mit den „Neuen” die Teams bei den Exkursionen durch Stadt, Land und Fluss. Die russischen Freunde haben alles so hervorragend geplant und durchgeführt, dass bei uns Gästen keine Wünsche offen blieben. Es hat allen Spaß gemacht, in St. Petersburg. Es hat allen gefallen, alle waren begeistert! Gut, vielleicht mussten die meisten beim Staunen etwas schwitzen, in all den Tagen. Lag es etwa an der falschen Kleidung im Gepäck? Aber wer konnte schon ahnen, dass in St. Petersburg Anfang Mai die Weißen Nächte auch Heiße Nächte sind. Dieses Mal war schon nach 6 Tagen Schluss. Es ging leider nicht anders, wegen der vielen Feiertage und Wochenenden!
Was Sie sehen, ist Sankt Petersburg.
In sechs extrem langen Tagen. Durchgeschoben, durchgefahren, durchgelaufen, durchgemacht und durch und durch erlebt. Und dann, wieder einmal, auf die Schnelle zusammengebracht. Visuell. Von ein paar Deutschen, Franzosen und Russen, die insgesamt 3 Stunden hatten, um sich kennen zu lernen, die 6 Arbeitstage, 10 Nächte und dann noch 3 Tage des langsamen Abschieds miteinander verleben durften. Sprachschwierigkeiten hat es natürlich, wie auch in Berlin, ab und zu gegeben. Aber zur Not wurde wieder gezeichnet, der Unterarm gestreichelt, die Schulter getätschelt und mit dem Kopf genickt.
Boljschoe spasibo, Freunde, höchstes Lob und doswidanje im nächsten Jahr!
PS:
Der jährliche Arbeitsaustausch zwischen unseren Schulen in Karlsruhe und Paris wird seit 19 Jahren, die trinationale Zusammenarbeit mit unserer Partnerschule in Sankt Petersburg zum dritten Mal vom Deutsch-Französischen Jugendwerk als berufliche Maßnahme mit erheblichen finanziellen Mitteln gefördert.
Bc | Fotos Bm