Sankt Peters­burg, ali­as Petro­grad, ali­as Lenin­grad im Jah­re 2010

Nov 2010

Tri­na­tio­na­ler Aus­tausch mit Gobe­lins, Paris,
und der Rerich-Kunst­fach­schu­le, St. Petersburg

St. Peters­burg 2010 

Faul und trä­ge liegt er am Ufer. Er hat sich breit gemacht und alle Vie­re von sich gestreckt. In sei­nen Där­men gärt es. Er hat zuviel gefres­sen in den letz­ten Jah­ren und scheint satt zu sein. Über­satt. In sei­nem Fell sind noch die nas­sen Fle­cken des Win­ters, der sich erst vor ein paar Tagen wei­ter nach Nor­den ver­zog und den letz­ten Schnee mit­nahm, von dem es in die­sem Jahr mehr als genug gab.

Unser Flug­zeug fliegt eine gro­ße Schlei­fe. Nach­dem es die Wol­ken­de­cke durch­bro­chen hat, sieht man deut­lich die Dimen­sio­nen des Meer­bu­sens. Drü­ben im grau­en Dunst glaubt man die Küs­te Finnlands.

Er liegt direkt unter uns, der schwar­ze Hund. 

Jurij Schewtschuk, der Schre­cken des KGB, Sän­ger und Gitar­rist der sys­tem­kri­ti­schen rus­si­schen Rock­band mit dem super­gif­ti­gen Namen DDT hat ihn besun­gen, den Tschor­ny Pjos, den schwar­zen Hund. Und jeder sei­ner Fans wuss­te genau, dass er eigent­lich Peters­burg damit meint.

Sankt Peters­burg, ali­as Petro­grad, ali­as Leningrad.

Von Peter dem Gro­ßen 1703 in mücken­ver­seuch­ten Sümp­fen als Zugang Russ­lands zur Ost­see und als Boll­werk gegen die ver­hass­ten Schwe­den unter dem Namen Sankt-Pie­ter­bur­ch auf mensch­li­chen Kno­chen erbaut. Heu­te über 4 Mil­lio­nen Ein­woh­ner, nörd­lichs­te Mil­lio­nen­stadt der Welt, prunk­vol­les Welt­kul­tur­er­be der UNESCO.

Wir lan­den am 7. Mai 2010, 17.35 Uhr Orts­zeit in der Rus­si­schen För­de­ra­ti­on. Frem­des Land, frem­de Men­schen, frem­de Sit­ten und Gebräu­che, frem­de Spra­che, frem­des Essen, frem­de Wäh­rung, frem­de Schrift.

Und dabei wis­sen wir jetzt noch nicht ein­mal, dass es heu­te Nacht nur noch für vier Stun­den so rich­tig dun­kel wird, wir in den nächs­ten Tagen den hei­ßes­ten Mai seit Beginn der Wet­ter­auf­zeich­nun­gen erle­ben und end­lich ver­ste­hen wer­den, war­um die weib­li­chen Gazel­len auf dem Nevs­kij-Pro­spekt bei nahe­zu 30 Grad nur spär­lich beklei­det daher stöckeln.

Die Fahrt mit dem Bus zum Okto­ber­ho­tel im Zen­trum dau­ert. Vor­bei an der Gedenk­stät­te zur Erin­ne­rung an die deut­sche Blo­cka­de von 1941–44. 900 Tage Hun­ger, 100.000 Flie­ger­bom­ben, 150.000 Artil­le­rie­ge­schos­se. Deut­lich über 1.000.000 Zivi­lis­ten ver­hun­gert, an Krank­hei­ten gestor­ben, mit deut­scher Prä­zi­si­on in die Luft gesprengt. 500.000 Rot­ar­mis­ten sind bei Befrei­ungs­ver­su­chen gefal­len. Die Befrei­ung wird gefei­ert. Am 9. Mai 2010 zum 65. Mal! In der Stadt sind fröh­lich win­ken­de Rot­ar­mis­ten all­ge­gen­wär­tig. Schwarz-wei­ße Fotos von ihnen, auf Pla­ka­ten und Trans­pa­ren­ten. Direkt neben denen von McDo­nald, Pep­si und Sam­sung. Die Vete­ra­nen und Enkel in der heu­ti­gen Rus­si­schen För­de­ra­ti­on mar­schie­ren Mann an Mann und Frau an Frau zum Geden­ken. Rote Fah­nen und Fähn­chen über­all. Pobe­da! Sieg! Frau Mer­kel und Herr Sar­ko­sy sind als Gäs­te auf der Ehren­tri­bü­ne dabei. Nicht wirk­lich in St. Peters­burg, aber in Mos­kau. Wir kön­nen sie nur auf Groß­lein­wän­den über­all auf den Plät­zen der Stadt bewundern.

Der Emp­fang bei unse­ren rus­si­schen Freun­den ist mehr als herz­lich. Ganz, ganz gro­ße Gast­freund­schaft, wie die nächs­ten Tage noch zei­gen werden!

Deut­sche, Fran­zo­sen und Rus­sen. Auf dem Motor­boot geht es durch die Kanä­le hin­aus auf die Neva. Zwi­schen die Spei­sen vom rus­si­schen Buf­fet rei­hen sich die, zum 300. Geburts­tag im Jah­re 2003 restau­rier­ten, prunk­vol­len Fas­sa­den his­to­ri­scher Paläs­te wie Per­len in einer Ket­te. Kul­tur­haupt­stadt, Welt­kul­tur­er­be. Sankt Peters­burg, die Schö­ne aus den Sümpfen!

Auf den Brü­cken drän­geln sich win­kend Tou­ris­ten aus aller Welt. Refle­xio­nen tan­zen unbe­schwert auf Mau­ern, Brü­cken und Fas­sa­den. Fried­lich, ja unbe­schwert sonnt sich die Stadt. 

Die Zeit des Tschor­ny Pjos ist lan­ge schon vorbei!

Am gegen­über­lie­gen­den Ufer erhebt sich die ehe­ma­li­ge KGB-Zen­tra­le. Sie­ben Stock­wer­ke über, sie­ben unter dem Was­ser: Ein Ang­ler fängt dort die meis­ten Fische, sagt Luid­mi­la am Buf­fet zu Dou­glas und mir. Aber wir drei sind Kin­der des Kal­ten Krieges.

Unse­re Schü­ler rekeln sich inzwi­schen tri­na­tio­nal auf dem Son­nen­deck, haben Spaß und genie­ßen den Nach­mit­tag. Die Son­ne scheint, das Essen war super, in den Där­men der Stadt pul­siert das Leben. Des­halb sind wir hier! Was wol­len wir mehr? Vor dem Neu­bau der Bal­ti­ca-Braue­rei mit der nagel­neu­en gigan­ti­schen Leucht­wer­bung auf dem Dach liegt in hof­fent­lich letz­ter musea­ler Ruhe der Pan­zer­kreu­zer Aurora.

Rus­sisch-japa­ni­scher Krieg, Okto­ber­re­vo­lu­ti­on, Ers­ter und Zwei­ter Weltkrieg!

Unse­re Schü­ler füt­tern ihre Spei­cher­kar­ten, die Gehir­ne des digi­ta­len Zeit­al­ters, mit der mar­tia­li­schen Kulis­se. In kaum einer ande­ren Stadt haben so vie­le Tra­gö­di­en ihre Nar­ben hin­ter­las­sen. Sankt Peters­burg lebt von man­nig­fal­ti­gen Gegensätzen.

Es wird Zeit die Auf­ga­ben an unse­re Gra­fik­de­sign-Schü­ler zu verteilen: 

Zeigt Sankt Peters­burg, wie ihr es seht!

Die fol­gen­den Tage sind als Fort­set­zung der Arbei­ten des tri­na­tio­na­len Arbeits­auf­ent­hal­tes in Ber­lin 2009 zu ver­ste­hen. Kei­ner der teil­neh­men­den Schü­ler aus Deutsch­land und Frank­reich war in Ber­lin dabei. Dort dabei waren auf rus­si­scher Sei­te nur eine Hand­voll Teil­neh­mer, die sich erfah­ren ein­brach­ten und schon wuss­ten, wie es lau­fen könn­te. Die­se Hand­voll beglei­te­te mit den „Neu­en” die Teams bei den Exkur­sio­nen durch Stadt, Land und Fluss. Die rus­si­schen Freun­de haben alles so her­vor­ra­gend geplant und durch­ge­führt, dass bei uns Gäs­ten kei­ne Wün­sche offen blie­ben. Es hat allen Spaß gemacht, in St. Peters­burg. Es hat allen gefal­len, alle waren begeis­tert! Gut, viel­leicht muss­ten die meis­ten beim Stau­nen etwas schwit­zen, in all den Tagen. Lag es etwa an der fal­schen Klei­dung im Gepäck? Aber wer konn­te schon ahnen, dass in St. Peters­burg Anfang Mai die Wei­ßen Näch­te auch Hei­ße Näch­te sind. Die­ses Mal war schon nach 6 Tagen Schluss. Es ging lei­der nicht anders, wegen der vie­len Fei­er­ta­ge und Wochenenden!

Was Sie sehen, ist Sankt Petersburg. 

In sechs extrem lan­gen Tagen. Durch­ge­scho­ben, durch­ge­fah­ren, durch­ge­lau­fen, durch­ge­macht und durch und durch erlebt. Und dann, wie­der ein­mal, auf die Schnel­le zusam­men­ge­bracht. Visu­ell. Von ein paar Deut­schen, Fran­zo­sen und Rus­sen, die ins­ge­samt 3 Stun­den hat­ten, um sich ken­nen zu ler­nen, die 6 Arbeits­ta­ge, 10 Näch­te und dann noch 3 Tage des lang­sa­men Abschieds mit­ein­an­der ver­le­ben durf­ten. Sprach­schwie­rig­kei­ten hat es natür­lich, wie auch in Ber­lin, ab und zu gege­ben. Aber zur Not wur­de wie­der gezeich­net, der Unter­arm gestrei­chelt, die Schul­ter getät­schelt und mit dem Kopf genickt.

Bol­j­schoe spa­si­bo, Freun­de, höchs­tes Lob und dos­wi­dan­je im nächs­ten Jahr!

PS:

Der jähr­li­che Arbeits­aus­tausch zwi­schen unse­ren Schu­len in Karls­ru­he und Paris wird seit 19 Jah­ren, die tri­na­tio­na­le Zusam­men­ar­beit mit unse­rer Part­ner­schu­le in Sankt Peters­burg zum drit­ten Mal vom Deutsch-Fran­zö­si­schen Jugend­werk als beruf­li­che Maß­nah­me mit erheb­li­chen finan­zi­el­len Mit­teln gefördert.

Bc | Fotos Bm